Meine Art der Sagenforschung

Listige Alte, zauberkräftige Feen, weise Spinnerinnen, wilde Tänzerinnen, Schatzhüterinnen, Seelenbegleiterinnen, Kräuterfrauen, Heilige, Huren, Hexen und Holzmüetterli – wirkmächtig sind die Gestalten, die unsere Sagen bevölkern: ein Teil Kulturgeschichte der Frauen und der Mensch-Natur-Beziehung.

Meine persönliche Auseinandersetzung mit Sagen- und Märchen umfasst mehr als das Wissen über Mythologie und Erzählforschung, das ich mir vor vielen Jahren auf der Universität angeeignet habe. Dazu kommt eine jahrzehntelange Auseinandersetzung mit Schamanismus, matrifokaler Lebensweise, Landschaftsmythologie, die ihrerseits u.a. aus Brauchtum, Ethnologie und Archäologie schöpft. Es waren diese Fachgebiete und der Austausch mit vielen Forschenden, die mir halfen, von der oft moralisierenden Oberflächlichkeit der Sagen und Märchen weiter in ihre Tiefenstruktur vorzustossen, zu erkennen, in welcher Natur- und Kulturlandschaft sie zuhause sind, welche Weltbilder, Denkweisen und Alltagserfahrungen sich in ihnen zeigen.

Mit vielen Menschen war ich seither auf dem Sagen- und Märchenpfad: in den Bergen und am Meer, in der Stadt und an Kultplätzen. Wir haben uns auf Orte eingelassen, haben zugehört, was die Bäche und Bäume, die Gletscher, die Felsen, die Dörfer erzählen. Neue Geschichten sind entstanden, die alten haben sich in frischer Gestalt gezeigt.

Meine Art der Sagenforschung

Neben dem Erleben, das oft in ungeahnte Dimensionen führt, ist mir immer auch das rationale Verstehen wichtig – die Auseinandersetzung mit der Geschichte hinter den Geschichten, mit Denkweisen und Weltbildern und nicht zuletzt mit den vielen Ebenen, die zum Gewebe des Universums gehören. Viele Forschende sind da am Werk und die Arbeit lohnt sich: Machtvolle Frauengeschichte wird hier aus der Unsichtbarkeit der patriarchalen Geschichtsschreibung herausgeholt und der Wandel der Mensch-Natur-Beziehung wird nachvollziehbar.

In der oralen Tradition sind Sagen immer wieder frisch erzählt - einer neuen Zeit und einer neuen Zuhörerschaft angepasst worden. Erst die Niederschrift hat sie erstarren lassen, doch zugleich blieben sie uns dadurch erhalten.

Es ist Zeit, sie wieder neu zu beleben.

Meine Art der Sagenforschung


Das tue ich auch in BERGMÜTTER, QUELLFRAUEN, SPINNERINNEN (Oktober 2021). Das Buch kreist um lokale Ahnfrauen, deren Geschichten in der Walliser Landschaft verortet sind, doch seine Bedeutung geht weit über diese Region hinaus und greift Themenfelder auf, die aktueller nicht sein könnten.

Hier ein Ausschnitt aus dem Nachklang:

«Gemeinsam sind wir in diesem Buch in eine Weltsicht eingetaucht, die uralt ist, doch im Zuge der Problematik unseres modernen Lebens wieder Bedeutung erhält. Man entdeckt heute, dass es in der Natur ein Prinzip des Beseelten gibt: etwas Fühlendes, etwas Geistiges, womit man sich verbinden kann – ganz so, wie es in den Sagen erzählt wird. Darin liegt etwas zutiefst Heilsames, unser In-der-Welt-Sein wird anders. Eine vergessene Sicht tut sich auf, ein neuer Zugang zur Natur, zu unserer Stellung darin und zu den Aufgaben und Herausforderungen, die es nun zu bewältigen gilt.

Es geht also nicht darum, in die Vergangenheit zurückzukehren, in die vermeintliche Harmonie gestriger Zeiten, sondern darum, von den Vorfahrenden zu lernen, um dann mit viel Wurzelkraft neues Vertrauen zu gewinnen und lebensbejahende Perspektiven zu entwickeln – das alte Lied neu für uns zu entdecken.

Es ist das Lied von der Heiligkeit des Lebens, von der tiefen Vernetztheit aller Lebewesen und Dinge unter der sichtbaren Oberfläche, vom Stirb-und-Werde, von der Balance von Geben und Nehmen, vom Wirken in der Gemeinschaft, vom sich Befreien von patriarchalen Verdrehungen und Verirrungen, von der natürlichen Stellung der weiblichen Kraft, vom Erkennen des Heilsamen, von Verbindlichkeit und Hingabe an die Aufgaben des Lebens und nicht zuletzt vom Offensein für die Inspiration aus verborgenen Wirklichkeitsebenen.

In einer Zeit, in der wir scheinbar keine Zeit mehr haben, tun wir gut daran, innezuhalten, um in die Natur und in uns hineinzulauschen. Was die Erde braucht, was wir benötigen, ist das Stillwerden im Nichtwissen, das Hineinspüren, das Erahnen der neuen Melodie des alten Liedes. Möge es an Kraft und Klarheit gewinnen und helfen, uns auf die tiefe Verbundenheit mit allen Wesen zu besinnen, unseren angestammten Platz zu finden, wirkmächtig zu walten oder bewusst nicht zu handeln und uns im Fluss des Lebens geborgen zu fühlen.»