Von der Kraft der Ahninnen
Mit Stampfen und Kichern, Raunen und Flüstern, Spinnen und Weben bringen die Wildfrauen eines ins Wanken: die Mär von der Allgemeingültigkeit patriarchaler Geschichten.
Eine Sage oder eine Mär ist kein Tatsachenbericht. Sie erzählt vielmehr von einer Welt hinter der Welt und nie ist klar, ob die Sagenfrau nun eine Urmutter, eine Göttin, eine Landschaftsahnin, eine Vorfahrin, Mutter Natur, eine gewöhnliche Frau oder gar die Erzählende selbst ist. Alle sind eins und sind zugleich unterschiedliche Ebenen der Wirklichkeit, Welten in Welten in Welten.
Das lässt sich nicht mehr rein mit dem Intellekt erfassen. Doch wer sich entspannt auf die Geschichte einlässt, lauscht, was sie erzählen will, gelangt in jene Tiefe, wo Herz und Bauch und Verstand sich verbinden können.
Aus meinem Buch WILD UND WEISE. Weibsbilder aus dem Land der Berge. 1998
«Unsere Großmütter, besonders die, welche abends ein Licht oder eine Gabe vors Fenster stellten, wussten die Sagen der Wildfrauen aus den Bergen noch zu erzählen. Doch dann sind andere Geschichten wichtig geworden: die von Wohlstand und Bildung, von Technik und Wissenschaft, von Gleichberechtigung und Gleichstellung, von Luxus und Konsum, von Umweltschäden, Katastrophen, Arbeitslosigkeit. Und jetzt, wo wir alles haben - auch Leere und Hoffnungslosigkeit -, tauchen die Wildfrauen wieder auf aus ihren Verstecken in den Bergen und zeigen dir, was wir verloren haben.
Sie kommen aus der Vergangenheit und rühren an deiner Lebensgeschichte. Sie wirken fern und doch so vertraut. Abwehr magst du spüren gegen sie. Lächerlich, sie ernst zu nehmen! Und du bist überzeugt: Sie haben nichts zu tun mit deinem Leben. Sie wissen nichts von deiner Computerwelt, nichts von deinem Prüfungsstress und nichts von deinen Bankgeschäften. Sie helfen nicht mit bei politischen Aktionen und nicht beim Putzen deiner Wohnung. Sie kümmern sich nicht um dein Liebesleben, auch nicht um deine Kinder, wenn du an der Arbeit bist. Deine Geschäfte lassen sie kalt und auch dein überfüllter Terminkalender.
Berggängerinnen sind sie, rau und ungehobelt, sie passen nicht in deine alltägliche Erlebniswelt. Und manchmal sind sie zart, fein und erlösungsbedürftig. Keine Ahnung haben sie von deinen Sorgen, verschaffen dir weder einen Arbeitsplatz noch helfen sie beim Ausfüllen deiner Steuererklärung. So lieblich und schön, so wild und hässlich sie auch in den Sagen daherkommen mögen und die Welt ins Gegenteil verkehren: Sie sind fernab von den wirklichen Problemen unserer Zeit. Nein, sie passen nicht in dein Leben. Wirklich nicht. Denkst du.
Doch immer öfter steigen die wilden und weisen Frauen herunter von den Bergen, wählen ihre Schülerinnen aus und nehmen sie mit. Kein Mensch wird es vorerst bemerken, wenn dir das passiert. Still und heimlich wirst du neue Welten bereisen - innere, aber auch solche, die ausserhalb von dir existieren, von denen du nicht mehr gewusst hast, dass es sie gibt. Und allmählich wird dir klar: Sagenfrauen sind Ahninnen - an ihren Erfahrungen kannst du anknüpfen.
Doch nicht darum geht es, einzutauchen in die vermeintliche Harmonie gestriger Zeiten, sondern darum, einen anderen Zugang zu den Aufgaben deiner alltäglichen Wirklichkeit zu finden. Denn deine Ahninnen werden dich auf ihre Weise lehren, mehr Kraft im Bauch zu sammeln, um die Wirksamkeit deines Tuns und Lassens zu verstärken.
Sie rütteln dich wach, die Ahninnen. Doch dann musst du dich ernsthaft auf die Suche nach ihnen machen. Ihre Kraft liegt nicht offen da. Sie haben sich versteckt, denn lange Zeit sind sie vertrieben worden, verdrängt, verschwiegen, verleugnet, verbannt und verbrannt. Doch wenn du willst oder wenn du musst, kannst du sie und ihre Welt auf deine Weise wieder entdecken...
Auch in dir können die Ahninnen das Innere zum Schwingen bringen. Sie werden deine Lust am Spinnen und Weben wecken, an Kopf und Bauch, an rationalem Denken und an intuitiven Einfällen, am Forschen und Phantasieren, am Wagen, Handeln oder Nichtstun. Von ihnen geht eine Schönheit und Kraft aus, die auch dein Leben verändern können. Sie machen dich offen und empfänglich für andere Möglichkeiten, können längst vergessene Quellen der Inspiration und des Verstehens wieder ans Licht bringen, die Klugheit des Herzens wecken, die Freude am Närrischen und deine Sehnsucht nach der ursprünglichen Wildheit der Natur – auch der tief in deinem Inneren. Dein Leben wird nicht einfacher, aber farbiger, lebenswerter, sinniger, irr-sinniger. Du wirst Möglichkeiten entdecken anstelle von Hoffnungslosigkeit. Kurz: Du kannst dich neu in diese Welt verlieben!»