Meine Begegnung mit Sagen und Märchen
Ich lese die alten Sagen als Weisheitsgeschichten,
die in einer Tiefe wurzeln, die Zeitströmungen nicht unterworfen ist. Ich versuche, den Kern herauszuschälen, der Bedeutung hat - für mich, heute.
Aufgewachsen bin ich im oberen Rhonetal. Dort war das Sagenerzählen in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts noch einigermassen lebendig. Zumindest da, wo abends nicht das Radio oder der Fernseher die Abendunterhaltung übernahm.
Viele Sommer lang durfte ich mit meiner Grossmutter auf einer Alp verbringen und oft erzählte sie uns Kindern Sagen - was meine Mutter gar nicht schätzte, denn sie wollte nicht, dass man uns Kinder mit Lügengeschichten fütterte.
Doch ich liebte die «Bozugschichte», die von der Begegnung mit Naturgeistern berichteten. Und ich erinnere mich ganz genau an das grosse Schaudern und zugleich an die wohlige Geborgenheit, die diese Erzählstunden in mir auslösten. Und anderntags, als wir wieder draussen spielten, gingen diese Geschichten weiter. Immer gab es seltsame Wesen, die uns begleiteten, hilfreiche Tiere, verborgene Zugänge in unterirdische Welten und viel weiter oben, dort, wo das Wasser herkam, war das geheimnisvolle Reich der alten Bergfrau. Sie war es irgendwie, die «meine Welt im Innersten zusammenhielt».
Natürlich verlor sich diese Welt- und Wirklichkeitserfahrung mit zunehmendem Alter. Und wie es so ist im Märchen und im Leben: Ich musste hinaus in die weite Welt und «vergass» die alten Geschichten. Als Studentin setzte ich mich immerhin noch literarisch und psychologisch mit Märchen auseinander - analysierend, mit grosser Distanz. Doch da war auch eine Ahnung, dass mit dem Intellekt allein die Wirklichkeit nicht zu fassen ist.
Erst viel später tauchte eines Nachts die Sagenfrau meiner Kindheit in einem Traum auf: die Alte Schmidtja. Sie sitzt in ihrem Alphäuschen am Spinnrocken, arbeitet und betet für die Armen Seelen, die im nahen Aletschgletscher für ihre Sünden büssen. Sie lässt die frierenden Seelen sogar zum Aufwärmen in die gute Stube – so die Sage.
Die Alte berührte mich im Traum so tief, dass ich mich nach langen Jahren der Nichtbeachtung wieder den Sagen zuwandte und den Märchen. Es waren vor allem weibliche Gestalten, die mich interessierten. Ich entdeckte Wildfrauen, Fängginnen, Feen, Hexen, Dialen, Saligen, geheimnisvolle Alte. Und sie alle zeigten mir, dass es dieses «Wie-Frau-zu-sein-hat», nach dem ich erzogen worden war, eigentlich nicht gibt. Schon das war ein Gewinn.
Dann noch dies: Die meisten von ihnen sind Spezialistinnen, wenn es darum geht, mit der Natur zusammenzuarbeiten um zu überleben. Sie kennen die Geheimnisse rund um Geburt, Leben, Tod und Wiedergeburt. Sie sind Schamaninnen, Hebammen, Heilerinnen, Mütter, Bäuerinnen, Kräuterfrauen, Händlerinnen, Seherinnen, Geschichtenerzählerinnen. Sie kennen den Zugang zu anderen Welten, holen dort Kraft für Wandlung und Heilung und sind in Verbindung mit einer schützenden, nährenden, schöpferischen und als weiblich empfundenen Kraft, einer Ur-Ahnin, aus der alles Leben stammt und zu der es zurückkehrt. Nach deren Ordnung gilt es zu leben und zu handeln. Dann geht es den Menschen gut.
Natürlich ist dieses naturweisheitliche Wissen nicht einfach so locker aus den alten Märchen und Sagen zu schöpfen. Es braucht einiges, um die patriarchale, christliche, moralische Zurechtbiegungen und Überformungen, Dämonisierungen oder Verniedlichungen zu entdecken, wie Schichten einer Zwiebel abschälen und darunter einen Kern zu entdecken, der auch heute noch Bestand hat.
Die Auseinandersetzung mit Märchen und Sagen sind für mich ein grosser Gewinn. Bis heute sind mir diese Sagenfrauen Lehrerinnen, wenn es darum geht, nach einer natürlichen Ordnung zu leben, im Einklang mit den Rhythmen und Zyklen des Lebens, im Einklang auch mit meiner persönlichen Natur.
Und wie ich immer wieder erfahre: Diese Geschichten können den Blick öffnen auf die andere Seite der Wirklichkeit. Dies hilft oftmals aus Sachzwängen und scheinbar unabwendbaren Entwicklungen heraus und lässt uns Geborgenheit im Grunde des Seins erfahren. Oder wie Marie Métrailler, die alte Weise aus dem Wallis, es in «Die Reise der Seele» ausdrückt:
«Märchen und Sagen vermögen die Klugheit des Herzens zu wecken, bringen das Innere zum Schwingen und erlauben, anzuknüpfen bei urzeitlichen Ahnungen, die tief hinter jedem Wissen verborgen sind.»